Einführung zum Itinerar von Nikulás von Munkaþverá
Skandinavische Reiseliteratur im Mittelalter
Allgemeines zum Reisen im Mittelalter
Will man heutzutage nach Rom oder Jerusalem reisen, steht man prinzipiell vor den gleichen Herausforderungen wie die Menschen des Mittelalters. Zunächst wird man sich orientieren wollen, welche Reiseroute die beste von einem bestimmten Ausgangspunkt ist, welche Fortbewegungsmittel man nutzen kann und wie viel Zeit das Vorhaben aller Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen wird. Wenn die Wahl dabei nicht auf das Flugzeug fällt, wird man sich an aktuelle Karten und gegebenenfalls an Online-Karten wie Google Maps oder OpenStreetMap halten. Sie zeichnen sich durch eine maßstabsgetreue Wiedergabe von Entfernungen zwischen einzelnen Orten aus, bilden modellhaft tatsächliche Straßen-, Wasser- und Gebirgsverläufe ab, bieten eine Menge weiterer Orientierungsmöglichkeiten und zusätzliche relevante Informationen für den Reisenden.
Ähnlich detaillierte Karten für einen solchen Verwendungszweck gab es im Mittelalter erst im späten 13. Jahrhundert, soweit wir wissen. Dabei handelt es sich um sogenannte Portolane, die wesentliche nautische Informationen zu bestimmten Küstenabschnitten enthielten. Für das Inland gab es einen vergleichbar exakten Kartentyp nur in Form von Regionalkarten oder Stadtkarten. Die mittelalterlichen Weltkarten (Mappae mundi) hingegen, die die gesamte bewohnte Welt abbildeten, taten das mit einem viel größeren Abstraktionscharakter und mit Rücksicht auf zumeist gänzlich andere Aspekte. Bei ihnen stand das christliche Weltbild im Vordergrund, man findet auf ihnen demzufolge etwa wichtige heilsgeschichtliche Orte, die ihrer Bedeutung entsprechend größer dargestellt wurden als andere, in dieser Hinsicht nicht so bedeutsame Orte. Auf vielen von ihnen wurde etwa Jerusalem im Mittelpunkt verzeichnet, da die Stadt für das Christentum von zentraler Bedeutung ist. Maßstabstreue hingegen war kein wesentliches Kriterium und für reale Reisen sind diese überregionalen Karten – auch solche, die mehrere Quadratmeter groß waren und viele Informationen aufnehmen konnten (Hereford-Karte, Ebstorfer Karte) – daher kaum geeignet gewesen.
Tatsächliche Abhilfe in praktischen Fragen der Reiseplanung und -durchführung boten hingegen sogenannte Itinerare (von lat. itinerarium, zu iter „Reise, Weg“). Dabei handelt es sich um Reisebeschreibungen, die in der Antike zunächst militärische Marschrouten festhielten und später auch zu anderen Zwecken genutzt wurden und zudem durchaus auch in gezeichneter Form vorkamen. Mit der Tabula Peutingeriana, die uns in einer Kopie aus dem 12. Jahrhundert überliefert ist, liegt sogar der einmalige Fall eines bebilderten Itinerars vor, das nicht nur eine einzelne Route darstellt, sondern ein großflächiges Orts- und Wegenetz für die die Zeit zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert, und zwar von den britischen Inseln bis in den fernen Osten. Bestimmend für die mittelalterliche Epoche hingegen sind neben Reiseberichten über politisch-diplomatische Missionen und kommerzielle Unternehmungen in erster Linie christlich bestimmte Itinerarien in Form von Berichten über Pilgerfahrten und Kreuzzüge (vgl. Heit 1999:773f). Dabei gab es neben rein sachbezogenen Weg- und Stationsbeschreibungen, also Itinerarien im engeren Sinn, auch von Reisenden gemachte Aufzeichnungen über die eigene Reise, welche über den reinen Streckenverlauf hinausgehende Informationen gaben und sowohl als Reiseführer bzw. -bericht wie auch als Bildungsinstrument oder aber als Erbauungsliteratur für ein zu Hause verbliebenes Publikum dienen konnten, das heißt, es waren Itinerarien im weiteren Sinn (Simek 1990:262). Um Letzteres handelt es sich, wie noch zu zeigen sein wird, bei dem Itinerar des Abtes Nikulás Bergsson.
Reisen in der skandinavischen Literatur des Mittelalters
Die Bewohner Skandinaviens reisten im Früh- und Hochmittelalter extrem viel, man kann geradezu von einer „Reisefreude“ und einem „Expansionsdrang“ sprechen, der in dieser Art erstmalig erst wieder im 19. Jahrhundert mit den Auswanderungswellen nach Amerika auftrat (vgl. Uecker 1989:68). Besuche von Verwandten und Freunden sorgten für Mobilität innerhalb der besser vertrauten Regionen, doch vor allem Pilgerfahrten, Handelsreisen und Kriegszüge führten die Bewohner Skandinaviens auch weit weg von ihrer Heimat, unter anderem bis nach Grönland im Westen, Russland im Osten und Konstantinopel im Süden. Wir wissen davon durch archäologische Funde, durch schriftliche Bezeugung anderer Kulturen, die mit den Skandinaviern in Kontakt getreten sind, aber auch durch ihre eigenen Berichte. Die mit Abstand meisten Informationen über jene lassen sich der Sagaliteratur entnehmen, insbesondere den sogenannten Kǫnungasǫgur, aber beispielsweise auch die Landnámabók und der Skaldendichtung.
Dabei reichen die Berichte bis ins 9. Jahrhundert zurück, so etwa die Erzählung von Ottar (Óttarr) über seine Heimat Hálogaland in Nordnorwegen, die uns jedoch nur als Einschub in die Übersetzung von Orosius’ Historia adversum paganos durch den westsächsischen König Alfred überliefert ist, an dessen Hof sich Ottar demzufolge für einige Zeit aufgehalten haben muss. Näher heran an die Beschreibung des Itinerars von Nikulás führt uns jedoch die Orkneyinga saga. Sie berichtet von der Palästinafahrt Jarl Rögnvalds (Rǫgnvaldr), die sich wohl im 12. Jahrhundert ereignete. Folgt man der literarischen Beschreibung, führte ihn sein Weg über Frankreich und die Straße von Gibraltar nach Byzanz und schließlich zu den heiligen Stätten in und um Palästina. Den Rückweg schlug er zusammen mit seinen Leuten über Byzanz, Apulien und Rom bis nach Dänemark ein, um von dort nach gut drei Jahren wieder in seine norwegische Heimat zu gelangen. Das literarische Vorbild für diese Saga dürfte der Bericht Snorris in der Heimskringla über Sigurd den Jerusalemfahrer (Sigurðr Jórsalafari), einen norwegischen König aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts, abgeben.
Die „Fahrt in den Süden“ (suðrferð oder suðrfǫr) hatte in der Sagaliteratur zumeist den Zweck einer Pilgerreise oder der Erlangung von Absolution, sodass die Bezeichnung suðrferð im Sagakontext schließlich für die ursprünglich nur übertragene Bedeutung „Pilgerfahrt“ einstand und die wortwörtliche Bedeutung „Fahrt in den Süden“ überlagerte – das gilt ebenso für die Verbalphrasen ganga/fara suðr, „eine Pilgerfahrt (nach Rom) machen“ (vgl. Shafer 2011:8). Warum die in der Sagaliteratur geschilderten Reisen jedoch nur eingeschränkt als „Reiseliteratur“ bezeichnet werden können, wie es sich bereits im Falle der Orkneyinga saga andeutet, deren Reiseschilderung offensichtlich einem literarischen Vorbild verpflichtet ist und weniger eine tatsächliche Palästinafahrt wiedergibt, wird in 1.3 Quellenprobleme kurz dargestellt.
Schließlich gibt es in der altnordischen Überlieferung einige Itinerare, denen teils detaillierte Informationen über Routen nach Rom und Jerusalem sowie Orte, die auf diesem Weg liegen, zu entnehmen sind. Aus heutiger Sicht würde man sie im Vergleich zu den Sagas eher als Sachliteratur bezeichnen, und schon im Mittelalter wurden sie als Reiseliteratur den sogenannten Artes mechanicae (und dort genauer dem Gebiet der navigatio) zugerechnet, also den praktischen Künsten, die im Gegensatz zu den Artes liberales, den freien Künsten, dem unmittelbaren Broterwerb dienten (vgl. Simek 1990:263). Neben dem Itinerar des Abtes Nikulás Bergsson ist das bekannteste mittelalterliche Itinerar der wesentlich jüngere Wegur til Römbs („Weg nach Rom“). Spätestens Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden, wurde der Text in die isländische Kompilation Hauksbók aufgenommen und gibt die Städte auf dem Weg von Lübeck nach Rom sowie die Entfernungen zwischen ihnen an. Dem Wegur til Römbs in der nüchternen, rein sachbezogenen Art der Wiedergabe von Informationen vergleichbar sind die Leiðir („Wege [in Europa]“), die für die Umsegelung Islands ein Verzeichnis der geographischen Distanzen bereitstellen und darüber hinaus einen Führer nach Rom und Konstantinopel bieten, der jedoch wenig detailliert und zum Teil im Widerspruch zu anderen Wegbeschreibungen der gleichen Zeit steht.
Zu den lateinischen Reiseberichten sind einmal die um 1200 in Norwegen entstandene und von einem dänischen Kreuzzug aus dem Jahr 1192 berichtende Historia de Profectione Danorum in Hierosolymam zu rechnen (vgl. Waßenhoven 2006:60), zum anderen das nach 1274 niedergeschriebene und nur fragmentarisch erhaltene Itinerarium in terram sanctam, das die Route ins Heilige Land auf dem Seeweg durch das Mittelmeer beschreibt (vgl. Simek 1990:264). Nur sekundär (das heißt in anderen literarischen Werken) bezeugt sind das Reisebuch Flos peregrinationis des Isländers Gizurr Hallsson sowie das Reisubók des Björn Einarsson, der den Beinamen Jórsalafari („Jerusalemfahrer“) trug (vgl. Simek 1990:294f).
Quellenprobleme
Das größte Problem in Bezug auf die schriftlich erhaltenen Informationen zu den Reisen der Skandinavier stellen die spärlichen Quellen dar, die erhalten sind bzw. abgefasst wurden. Sie stehen in einem krassen Kontrast zur enormen Menge der tatsächlich durchgeführten Reisen und sind oftmals nicht sehr aussagekräftig. Als gewichtiges Beispiel können hier die Ostfahrten angeführt werden: „Von den Fahrten in den Osten gibt es nur dürre, knappe Hinweise auf hauptsächlich schwedischen Runensteinen, und was uns schriftlich darüber erhalten ist, ist spät (14. Jahrhundert) und geht stark ins Märchenhafte.“ (Uecker 1989:71) Das Zitat von Uecker macht zudem auf zwei weitere grundlegende Schwierigkeiten aufmerksam: den zeitlichen Abstand zwischen der Niederschrift des Geschehens und dem Geschehen selbst sowie die aus der Perspektive des Historikers daraus unter Umständen entstehende Unzuverlässigkeit der Informationen, welche durch „Verfälschungen“ in der mündlichen Tradierung resultiert. Das betrifft insbesondere die altisländischen Sagas, bei denen in etwa zweihundert Jahre zwischen Ereignis und schriftlicher Darstellung des Ereignisses liegen.
Zudem handelt es sich gerade bei den Sagas um Texte mit dezidiert literarisch-ästhetischem Anspruch, womit sie im Gegensatz zu reiner Sachliteratur (auch) anderen Ansprüchen genügen müssen und in ihrer Darstellung über die reine Vermittlung von Sachinformationen weit hinausreichen. Bei ihnen geht es mindestens so sehr um das Wie als auch um das Was des Vermittelten, das heißt konkret, dass sie sich an bestehenden literarischen Vorbildern und Mustern ausrichten und diese zuweilen übernehmen; und das vor allem im Bereich der Hagiographie, die speziell bei den Rom- und Jerusalemfahrten die gängigen Erzählschemata der Sagas beeinflusst. Die Sagas sind daher weniger durch die subjektive Sicht des Verfassers geprägt (vgl. Simek 1990:263), eher dürften sich in ihnen kulturspezifische Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Handlungsmuster spiegeln, die Verfasser und Publikum teilten und die die wohlwollende Aufnahme der Geschichte befördern sollten (Kleidung und Ausstattung der Figuren mit Waffen und Rüstungen, Schilderung von Herrschaftsformen und Festen etc.). Zum anderen werden tatsächliche Begebenheiten sowie deren Ablauf oder Abfolge zugunsten einer guten, spannenden Erzählung und ihrer Anordnung und Akzentuierung des Geschehens abgeändert.
Sicher mögen die Itinerare in ihrer Nüchternheit („sobriety“) und besonderen Sorgfalt auf den Gegenstand („careful attention to the matter of hand“) zuverlässiger und informativer als die Sagaliteratur sein, und sie sind eben jenen schon allein deswegen bei historisch orientierten Untersuchungen zu skandinavischer Reiseliteratur vorzuziehen (Hill 1983:175). Doch die Überlieferungsverhältnisse ähneln sich stark, auch zwischen der Reise des Abtes Nikulás und der ältesten Aufzeichnung, die uns heute noch davon zur Verfügung steht, liegen über 200 Jahre. Und diese sind, wie noch zu zeigen sein wird, keinesfalls spurlos am Text vorübergegangen, denn der wurde lange nach dem Tod von Nikulás – zumindest das lässt sich mit absoluter Sicherheit sagen – um Details oder ganze Passagen erweitert. Inwiefern also, wie lange behauptet wurde, vor allem die persönliche Sicht und Kenntnis von Nikulás durch den ihm zugeschriebenen Text scheint, ist zumindest diskutabel.
Das Itinerar des Abtes Nikulás Bergsson (Leiðarvísir ok
borgaskipan)
Nikulás als historische Person
Abt Nikulás Bergsson (auch Bergþórsson oder Hallbjarnarson) gilt als Verfasser eines Itinerars, das er zumindest in Teilen aus eigener Anschauung und für nach Rom bzw. Jerusalem pilgernde Rezipienten geschrieben haben dürfte und das im Handschriftentext die Bezeichnung Leiðarvísir ok borgaskipan („Wegweiser und Städteverzeichnis“) trägt; geläufig ist hingegen der Kurztitel Leiðarvísir, der das sich in der einzigen vollständigen Handschrift anschließende Verzeichnis der Gnadenorte ausklammert. Historisch verifizierbar sind nur wenige Fakten über Nikulás. Man kann rekonstruieren, dass er seine Pilgerreise nach Rom und Jerusalem wohl zwischen ca. 1149 und 1154 unternahm und kurz darauf Vorsteher des Benediktinerklosters Þverá in Eyjafjörður wurde (vgl. Simek/Pálsson 2007:246). Nikulás war auch dichterisch tätig, von seinem Gedicht über den Apostel Johannes (Jóansdrápa) sind uns immerhin noch drei Strophen erhalten. Gestorben ist er wahrscheinlich 1159, allerdings kursieren in weiteren Quellen noch andere Sterbedaten, nämlich 1158 und 1160 (vgl. Waßenhoven 2008:34). In der Zeit zwischen seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land und seinem Tod kann denn auch die Niederschrift des Itinerars veranschlagt werden.
Darüber hinaus wird Nikulás im Epilog des Leiðarvísir als weise und berühmt (vitr ok víðfrǽgr), von gutem Gedächtnis und umfassend gebildet (minnigr og margfróðr) sowie hilfreich mit Ratschlägen und wahrheitsliebend (ráðvíss ok réttorðr) charakterisiert. Diese alliterierenden Adjektivpaare zeigen eine deutliche ästhetische Überformung auf, die den Wahrheitsgehalt des Gesagten zwar nicht prinzipiell in Zweifel zieht, aber dennoch zur Vorsicht mahnen sollte, das hier über Nikulás Geschriebene pauschal für bare Münze zu nehmen. Das Lob eines Autors – wie das eines Herrschers oder Heiligen – folgte in den mittelalterlichen Texten vielmals vorgegebenen idealen Mustern und lässt kaum oder nur schlecht zu verifizierendes Individuelles über den Autor selbst durchscheinen.
Inhalt, Aufbau und Zweck des Itinerars
Das Itinerar des Nikulás „zählt zu den bekanntesten und am besten erforschten Texten der altnordischen Sachliteratur“ (Simek 1990:267), dem sich seit jeher nicht nur Altnordisten zuwenden, sondern auch Historiker, Geographen, Ortsnamenkundler und jene Wissenschaftler, die sich im Speziellen mit Pilgerwegen befassen. Nach einer knappen Einleitung folgt der erste Hauptteil, der die Reiseroute von Island nach Dänemark (Aalborg) und dann bis Akkon schildert – unterbrochen durch eine ausführlichere Beschreibung Roms. Mit der Erwähnung von Akkon und Galilea beginnt der nächste Hauptabschnitt, der den Reiseführer für das Heilige Land und den Rückweg nach Aalborg umfasst, auf den noch ein kurzer Epilog folgt. Man kann den Aufbau des Itinerars aber durchaus auch als symmetrisch auffassen, wobei dann Prolog und Epilog die eigentliche Reisebeschreibung rahmen, die wiederum in drei Abschnitte gegliedert werden kann: Skandinavien bis Rom, Rom und Mittelmeer, Heiliges Land und Rückreise nach Skandinavien (vgl. Simek 1990:271).
Simek führt in seiner Zusammenfassung der Reiseroute des Abtes Nikulás ins Heilige Land 200 altnordische Namen auf, darunter Länder (Island, Nóregr = Norwegen, Danmǫrk = Dänemark etc.), Städte (Álaborg = Aalborg, Slésvik = Schleswig, Meginzuborg = Mainz etc.), Flüsse, Seen und andere Gewässer (Saxelfr = Elbe, Marteinsvatn = Genfer See, Átalsfjǫrðr = Golf von Antalja), Gebäude (Bjarnarðsspítali = Hospiz am St. Bernhard, Davis turn = Davidsturm etc.), aber auch Orte der Mythologie wie die Gnitaheiðr, der Ort, an dem Sigurd den Drachen erschlug (vgl. Simek 1990:276ff). Im Itinerar werden darüber hinaus zahlreiche Kirchen, Bischofs- und Erzbischofssitze genannt und dann immer wieder mit Wissenswertem und Anekdoten angereichert; geografisch bedeutsame Punkte werden bei der Beschreibung des Heiligen Landes immer mit besonderen heilsgeschichtlichen oder biblischen Themen in Verbindung gebracht (vgl. Waßenhoven 2008:41). Auf diesen Stätten liegt letztlich auch der Fokus des Textes, da sie für die Pilger (im Geiste) von besonderem Interesse waren.
Als konkrete Adressaten des Textes sind norðmenn („Skandinavier“ bzw. Norweger oder Isländer) angesprochen (vgl. Waßenhoven 2008:33), die sich von ihm Anleitung und Wegweisung erhoffen konnten. Unerlässlich für potentielle Nachfolger auf der Route des Nikulás waren demzufolge die Entfernungsangaben zwischen einzelnen Orten, die überwiegend in Tagesreisen und ab und an auch in Meilen angegeben werden und erstaunlich genau sind, des Weiteren die Nennung wichtiger Landmarken zur Orientierung im freien Gelände oder in einer größeren Stadt sowie am Rande die Aufzählung von Übernachtungsmöglichkeiten (insgesamt fünf Hospize). Auch bietet der Abt etwa zwei alternative Pilgerrouten bis Mainz an, einen östlicheren über Hildesheim und einen weiter westlich gelegenen über Utrecht und Köln. Über mögliche Gefahren durch Piraten gerade im östlichen Mittelmeerraum oder Hinterhalte durch Sarazenen im Heiligen Land berichtet Nikulás nichts, was man mit größter Wahrscheinlichkeit darauf zurückführen kann, dass der Abt seine Reise kurz nach dem zweiten Kreuzzug unternahm, also in einer Zeit, die günstige Bedingungen für ein solches, trotz allem mit Risiken behaftetes Unterfangen bot. Günstig war die Gelegenheit nicht zuletzt auch deshalb, weil das Königreich Jerusalem seine größte Ausdehnung und weitestgehenden Frieden innerhalb seiner Grenzen erfuhr (vgl. Hill 1983:201).
Zu guter Letzt sei erwähnt, dass der Leiðarvísir auch der reinen Erbauung von Lesern bzw. Zuhörern dienen konnte, die niemals beabsichtigten, selbst auf Pilgerfahrt zu gehen. Ihnen genügte der geistige Nachvollzug der Reise und vor allem für sie dürften die zahlreichen unterhaltsamen Episoden, die rund um verschiedene Stätten kreisen, gedacht gewesen sein. Diese Schilderungen sind es auch, die etwa dem Wegur til Römbs oder den Leiðir fehlen, welche mit ihren bloßen Angaben von Stationen und den zwischen ihnen liegenden Entfernungen mit Simek als Itinerarien im engeren Sinn bezeichnet werden können (vgl. 1.1 Allgemeines zum Reisen im Mittelalter). Der Leiðarvísir trägt in der Hauptsache Züge eines Itinerars – die Struktur des Textes ist maßgeblich durch den Reiseablauf geprägt –, jedoch eher eines Itinerars im weiteren Sinn, das heißt, er ist auch Pilger- bzw. Reiseführer, da er in seinem Informationsgehalt wiederholt über bloße Stations- und Entfernungsangaben hinausgeht und eine „epische Grundstruktur“ aufweist (Simek 1990:271). Er ist jedoch eher kein Reisebericht („travel account“), da ihm die für diese Gattung individuellen und subjektiven Züge fehlen (vgl. Marani 2012), was im Folgenden noch näher erläutert wird.
Neuere Forschungspositionen
Zuletzt bezweifelte Marani, dass Nikulás alle im Itinerar enthaltenen Informationen durch eigene Anschauung zu Pergament hat bringen lassen, was er insbesondere an der Beschreibung Roms festmacht, für die Nikulás allem Anschein nach verschiedene schriftliche Quellen nutzte (vgl. Marani 2012). Damit widerspricht Marani der bisher gängigen Forschungsthese, „dass der Abt seine Augen und Ohren während der ganzen Reise offenhielt und das wiedergab, was er als interessant und berichtenswert erachtete.“ (Waßenhoven 2008:48) Das jedoch wäre die basale Voraussetzung für einen Reisebericht. Für Marani handelt es sich bei dem Itinerar vielmehr um einen „unpersönlichen Führer“ („impersonal guide“) – er ist zum Beispiel nicht in der 1. Person Singular verfasst –, wobei die Erfahrungen und Beobachtungen vieler Reisender, aus deren schriftlichen Quellen sich Nikulás bedient habe, in den Reiseführer Eingang gefunden hätten (Marani 2012:110). Insofern unterscheidet er sich nicht grundlegend von den vielen anderen lateinischen Itineraren und Pilgerführern seiner Entstehungszeit.
Marani hat zudem einige relevante historische Daten des Textes in der maßgeblichen Handschrift des späten 14. Jahrhunderts (AM 194 8°) zusammengestellt, die mit seiner Datierung in das 12. Jahrhundert nicht zusammengehen. Zwar zweifelt er die Autorschaft von Nikulás nicht grundsätzlich an, indem er sie etwa als fiktive Zuschreibung eines späteren Überarbeiters des Textes erachtet, doch kommt er zu dem zwingenden Schluss, dass der Text, so wie er uns heute vorliegt, deutliche Bearbeitungsspuren durch spätere Schreiber aufweist. Diese hätten Fakten hinzugefügt, die sich in der Zeit von Nikulás’ Aufenthalt vor Ort noch nicht zugetragen haben können. Ausgeprägte nachträgliche Bearbeitungstendenzen sieht Marani vor allem in der Beschreibung Roms, auf die er sich in seiner Dissertation im Wesentlichen konzentriert. Damit kommt er erneut zu recht gegenteiligen Ergebnissen, wenn man die bis dato akzeptierten Forschungspositionen betrachtet, wie sie Waßenhoven exemplarisch vertritt: „Insgesamt scheint der erhaltene Text […] sehr nah am Original zu sein, es finden sich weder Einschübe noch Anachronismen und nur wenige Ungenauigkeiten“ (Waßenhoven 2006:59).
Handschriften als Überlieferungs- und Sinnträger
In der Literaturwissenschaft, die sich mit den mittelalterlichen abendländischen Texten auseinandersetzt, wird die Einsicht immer prägender, dass man einen einzelnen Text nicht isoliert von den anderen Texten betrachten kann, mit denen er zusammen in einer Handschrift überliefert ist. Denn sofern es sich um eine Sammelhandschrift handelt – was nichts anderes bedeutet, dass die in ihr zusammengestellten Texte annähernd zeitgleich zusammengebunden wurden –, kann man mit einer hinter der Textzusammenstellung stehenden Konzeption rechnen, die für das Verständnis der Einzeltexte im Sammlungsverbund relevant ist. Für den Leiðarvísir bemühte sich das erste Mal Simek um solch ein – den gesamten Codex umfassendes – Textverständnis. Er stellte fest, dass das Itinerar in der Handschrift, die den Text als einzige vollständig überliefert (AM 194 8°), in eine isländische Weltbeschreibung (Kosmologie) eingebettet ist, die eine Reihe von wissenschaftlichen Schriften zur Geographie, Geschichte, Komputistik, Medizin und Naturgeschichte beinhaltet. In diesem nach neuzeitlichem Verständnis enzyklopädisch angelegten Manuskript nimmt der Leiðarvísir seiner Deutung zufolge eine zentrale Rolle ein, denn er sieht in ihm den Anlass für die Aufzeichnung der weiteren kosmographischen Texten, die sich um das Itinerar herum versammeln; es habe sozusagen den „Nukleus“ gebildet (Simek 1990:276). Die Überlieferungsverhältnisse weisen demzufolge – genau wie wesentliche inhaltliche Kriterien (vgl. 2.3 Neuere Forschungspositionen) – auf die Verwandtschaft des Textes mit der Tradition des gelehrten lateinischen Schrifttums ähnlichen Inhalts.
Die Handschrift AM 194 8° – eine ausführliche Beschreibung auf Isländisch bzw. Dänisch findet sich auf der Website der Arnamagnäanischen Sammlung – liegt heute in Kopenhagen, wurde jedoch im Westen Islands von einem Geistlichen zu Pergament gebracht und im Jahr 1387 fertig gestellt, wie ein Schreiberkolophon verrät. Das Itinerar ist in der Handschrift auf den Blättern 11 bis 16 zu verorten, wobei sich Anfang und Ende auf der Vorderseite des jeweiligen Blattes befinden. Von den umgebenden Texten kann es nur aufgrund rein inhaltlicher Kriterien abgegrenzt werden (Epilog, Prolog), da graphische Hervorhebungen von Textgrenzen (Überschrift, Eingangsinitiale, freigelassener Raum oder ähnliches) fehlen. Der Inhalt der Handschrift liest sich wie folgt (vgl. Simek 1990):
Simek zufolge ist es wahrscheinlich, dass schon Nikulás und/oder sein(e) Schüler das Itinerar mit einem passenden kosmographischen Rahmen versehen hätten, zu dem sicherlich das Verzeichnis der Gnadenorte (Borgaskipan) gehört habe, welches ohne das Itinerar ziemlich funktionslos sei, aber als systematische Ergänzung der im Itinerar erwähnten Orte gut passen würde und schon wegen der detaillierten Beschreibung des Heiligen Landes von Nikulás selbst stammen dürfte (Simek 1990:273).
Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass das Itinerar in einer weiteren Handschrift überliefert ist. Das Fragment mit der Signatur AM 736 II 4°, das ebenfalls in der Arnamagnäanischen Sammlung in Kopenhagen aufbewahrt wird, bewahrt jedoch nur den Anfang des Textes, der nach einer Seite mitten im Satz abrupt endet. Dieser Überlieferungsträger bietet einige Lesarten und Varianten, unterscheidet sich aber insgesamt nur wenig von AM 194 8° (vgl. Waßenhoven 2006:59). Das andere Blatt des Fragments, das wohl aus derselben Lage stammt, enthält einen astrologischen Text, das heißt, auch dieses Manuskript war allem Anschein nach „enzyklopädisch orientiert“ (Simek 1990:273). Hinzu kommen drei nachmittelalterliche Abschriften dieser beiden Codices (vgl. Simek 1990:478, c–e), die heute jedoch nur noch wissenschaftsgeschichtlichen Wert besitzen dürften.
Verwendete Literatur
- Heit 1999
- Hill 1983
- Marani 2012
- Shafer 2011
- Simek 1990
- Simek/Pálsson 2007
- Uecker 1989
- Waßenhoven 2006
- Waßenhoven 2008