Das Webcomic ist aus einem Masterseminar heraus entstanden. Einige der Teilnehmenden haben als Teil ihrer Seminarleistung Hintergrundtexte verfasst, auf die in den Comicstrips verlinkt wird. Einige Texte sind am klassischen Hausarbeitsformat orientiert, andere sind in Briefform verfasst. Wir haben dabei mit einem Schreibformat experimentiert, das die Standardform wissenschaftlicher Kommunikation war, bevor der Brief im Verlauf des 19. Jahrhunderts vom Zeitschriftenartikel abgelöst wurde.
Kunst, Demokratie und Re-formance (von David Ratzel)
Am Beispiel der Reproduktion von „Fortitude“, welche über 25 Jahre in ihrem Zimmer hing, kann man die Bedeutung von Kunst für Jane Addams herauslesen1. Für Addams spiegelte das Bild einerseits die starke und andererseits aber auch die nachdenkliche, in Gedanken versunkene Herrscherin wieder. Sowie Addams den Kunstdruck bei sich im Zimmer aufgehängt hatte, wurden mit der Zeit im gesamten Hull House Reproduktionen von Kunstbildern aufgehängt. Nach und nach entwickelte sich bei Addams und Ellen Gates Starr der Gedanke, dass Kunst für alle Menschen zugänglich gemacht werden sollte. Laut Addams verknüpfen sich im Erleben von Kunst „Momente ästhetischer Erfahrung, individueller Identitätsentwicklung und Gemeinschaftsbildung“ (ebd.). Deswegen war es den beiden Hull-House-Gründerinnen so wichtig, bereits Kindern einen Zugang zu Kunst zu ermöglichen.
Darüber hinaus legte Addams in der Praxis des Hull House großen Wert auf die Rückbindung der Erzeugnisse der Industrialisierung an das traditionelle Kunsthandwerk. Die Industrialisierung verdrängte damals zunehmen traditionelle Handarbeiten, die in verschiedensten Ländern und Kulturen beheimatet waren. Das bedrohte zunehmend kulturelle Identitäten. Für Starr war die Maschine ein Symbol des gesellschaftlichen Unvermögens, Arbeit und Leben sinnhaft zu verbinden 2. Addams und Starr sprachen auch von der Entfremdung der Arbeit, des Lebens und der Kunst voneinander. Folglich hatten Einwandererkinder in Chicago kaum noch Bezug zu den traditionellen Fähigkeiten ihrer in die USA ausgewanderten Eltern und somit auch keine Verbindung zu ihrem ursprünglichen Herkunftsland. Gesprochen wird hier auch von einer unreflektierten Amerikanisierung, die sich durch Assimilation an eine „scheinbar homogene US-amerikanische Bevölkerung“ richtet 3. Jane Addams kritisierte diese „Assimilation“. Ihr war es wichtig, dass an Schulen neben der Heranführung an US-amerikanische Geschichte auch die kulturellen Hintergründe der einzelnen Schüler*innen einbezogen werden. Aus dieser Beobachtung heraus entwickelte sich in Hull-House die Idee für das „Labor Museum“, welches im November 1900 eröffnet wurde, und in dem traditionellem Kunsthandwerk ein öffentlicher Raum gegeben werden sollte. Aufmerksam wurde Addams auf traditionelles Kunsthandwerk durch ihre Beobachtungen der Besucher*innen des Hull House, welche aus den angrenzenden Arbeitervierteln zu ihnen ins Haus kamen (ebd.: 164). Die Besucher*innen praktizierten traditionelle Spinn- und Webmethoden ihrer Heimatregionen, um Kleidungsstücke herzustellen.
Labour Museum und Generationenkonflikt
Dewey, Mead und James befürworteten eine „unity of head and hand“, durch die eine [Schärfe von Intelligenz] ermöglicht werde.4. In dem Sinne bestand der Auftrag des „Labour Museum“ nicht nur in der Moderation des Generationenkonflikts, sondern auch in einem Rückbezug der industriellen Arbeit auf ihre Ursprünge im Kunsthandwerk. In der Präsentation und der direkten Beobachtungsmöglichkeit der Herstellung sollte nicht nur eine Verknüpfung der Web- und Spinnstoffe selbst entstehen, sondern auch zwischen dem Handwerk und dem vollendeten Produkt. Dies wurde auch erreicht, indem die Tätigkeiten während der Ausstellungen vorgeführt wurden.5. Für die Arbeiter*innen, welche vor Ort ihr Handwerk präsentierten, bot sich die Möglichkeit, sich als aktive Akteure*innen und Spezialist*innen für ihre Tätigkeit erleben zu können 6. Mit der Bekanntheit und dem Zulauf des „Labour Museum“ stieg auch die Nachfrage für die in den Ausstellungen erstellten Stücke7.
Das Idealbild des Kindes
Mit Blick auf das Kunsthandwerk spielte das Idealbild des Kindes für Addams und die anderen Settler*innen eine wichtige Rolle. Hervorgehoben wird der natürliche Spieltrieb von Kindern, der für erwachsene Fabrikarbeiter*innen bei der Arbeit verloren ginge8. Denn, so die Annahme, weder würden Industriearbeitende in ihrer Vorstellungskraft und eigenen Kreativität angeregt, noch hätten sie Bezug zu ihrer Arbeit und dem fertigen Produkt. Für Addams bildeten Spiel und Kunst daher einen wichtigen Ausgleich, und sie betrachtete beide in ihrem „produktiven Wechselspiel“9. DDamit gemeint ist, dass im Spiel Begegnungen zwischen Menschen ermöglicht wird, sowie auch in der Kunst und dem Kunsthandwerk. Die Gestaltung von Räumen, in denen gespielt wird bzw. in denen man sich begegnen kann, war Addams ein großes Anliegen. So setzte sie sich, zusammen mit dem Hull House nahestehenden Architekten, für eine sinnvolle Stadtentwicklung ein. Auch die Gestaltung dieser Begegnungs- und Spielräume sollten Ausdruck des oben geschilderten Prozesses von Kunstherstellung sein.Chicago ist bis heute bekannt für seine herausragende Spielplatz-Infrastruktur10.
Künstlerischer Ausdruck
Ebenso wurden im Hull House Räume geschaffen, um sich künstlerisch auszudrücken. Es wurde von Addams und ihren Kolleg*innen ein breites Angebot an künstlerischen Ausdrucksformen, darunter Theater und bildende Kunst, ermöglicht. Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden musste sich das Hull House mit der Zeit vergrößern und zusätzliche Gebäude ankaufen 11. Die verschiedenen Clubs, die unterschiedliche Kunstangebote durchführten, erfreuten sich in der Nachbarschaft großer Beliebtheit. Als Verkörperung für die Überzeugung, dass laut Addams Kunsthandwerk einen wichtigen Teil der pädagogischen Arbeit im Hull House ausmachen sollte, steht der Name von Enella Benedict. Benedict wurde von einer anderen Bewohnerin des Hull House so beschrieben, als ob Benedicts Hände immer beschäftigt waren, ihre Zunge jedoch still sei (ebd.: 106). Damit sollte Benedicts Tatendrang beschrieben werden. Sie stellte für ihren Kunstclub Angebote zur Verfügung, kümmerte sich um das benötigte Material und setzte ihr Anliegen, in der bildnerischen Gestaltung mit den Besucher*innen tätig zu sein, um. Benedict war sehr aktiv für die Butler Art Gallery in Hull-House. Diese Galerie war für alle Interessierten offen und stellte Kunstwerke befreundeter oder dem Hull-House zugewandter Künstler*innen aus. Auch aus dem Chicagoer Kunstmuseum wurden Kunstwerke entliehen, um sie in Hull-House auszustellen 12. Später funktionierte Benedict die Butler Art Gallery um, sodass die erstellten Werke der Besucher*innen selbst und nicht ausgewählte Kunst von „außen“ ausgestellt wurde13.
Re-formance
Im Wirken Benedicts spiegelt sich Addams‘ Überzeugung der re-formance wider. Der Begriff re-formance ist ein zusammengesetzter Begriff aus reform und perform 14. Unter reform wurde das Umformen, vor allem der eigenen Person verstanden. In dem die Bewohner*innen des Hull House sich in die Nachbarschaft begaben, haben sie ihre Lebensweise umgeformt und sich mit der Situation in den Chicagoer Arbeitervierteln konfrontiert. Für die Siedler*innen fand eine Konfrontation mit ihrer Irritation über die „Andersheit des Anderen“ statt, was Addams als die Methode des „inquiry as perplexity“ benannte (ebd.). Wörtlich übersetzt hieße das „Nachforschung durch Verblüffung“; inhaltlich ist dies so zu verstehen, dass die permanente Konfrontation der Siedler*innen mit dem für sie so anderen Leben der Chicagoer Arbeiterbevölkerung immer wieder Irritationen hervorrief, welche die Grundlage ihrer Forschung und Arbeit wurde und war. „Performance“ bedeutet grob Aufführung. Dies zielt nicht zuletzt auf den „domestic discourse“ ab, der insbesondere während der wöchentlich stattfindenden Teestunde abgehalten wurde 15. Bei diesen Treffen wurde über die alltäglichen Probleme der Nachbar*innen diskutiert, wie z.B. die mangelnde Müllentsorgung durch die Stadt Chicago. Was bisher hinter verschlossenen Türen der einzelnen Haushalte stattfand, wurde in den öffentlichen Raum getragen und diskutiert, und es wurde versucht, Lösungen zu finden. Dadurch fand eine Irritation über die „Andersheit des Anderen“ auch unter den Nachbarinnen selbst statt.
Auch Benedicts Kunstangebote und das Labor Museum waren in Form von beobachtbarem Kunsthandwerk und Ausstellungen Teil der „performance“. Ein weiteres Beispiel sind die im Hull House aufgeführten Theaterstücke, deren Handlungen sich um die Probleme der Bewohner*innen der Arbeiterviertel drehten 16. „Re-formance“ drückte sich im Hull House somit deutlich auch auf künstlerischer Ebene aus. Bei den Ausstellungen und Aufführungen, die sich großer Beliebtheit erfreuten, kamen die Nachbar*innen bzw. die Künstler*innen mit den interessierten Beobachter*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Klassen in Kontakt. Somit zeigt sich in der „re-formance“ Addams Überzeugung der Demokratie als „a reciprocal relation“ zwischen verschiedenen Gesellschaftsklassen (ebd.: 188f).
Literatur
1:Vgl. Pinhard, Inga (2009): Jane Addams: Pragmatismus und Sozialreform, Opladen : 146f.
2:ebd.:163.
3:ebd.: 160.
4:Jackson, Shannon (2000): Lines of Activity; Performance, Historiography, Hull-House Domesticity. Ann Arbor, MI: 106.
5:Vgl. Pinhard, Inga (a.a.O.):: 164f.
6:ebd.
7:Pinhard, Inga (a.a.O.): 165.
8:Vgl. Jackson, Shannon (a.a.O.): 105.
9:Vgl. Pinhard, Inga (a.a.O.): 155f.
10:https://www.richter-spielgeraete.de/de/spielraeume/maggie-daley-park-chicago/
11:Vgl. Jackson, Shannon (a.a.O.): 99.
12:Webb, Guiniviere Marie (2010): Origins and Philosophy of the Butler Art Gallery and Labor Museum at Chicago Hull-House. The University of Texas at Austin: 61ff.
13:Vgl. Jackson, Shannon (a.a.O.): 107.
14:Vgl. Althans, Birgit (2007): Das maskierte Begehren: Frauen zwischen Sozialarbeit und Management. Frankfurt am Main: 196ff.15:ebd.
16:ebd.: 196ff.
Verfasst und mit Fußnoten versehen von Felicitas Braun
Hull House, Chicago, im Juni 1894
Lieber John,
danke für Deinen letzten Brief! Ich freue ich mich, dass es Dich und Deine kleine Familie bald nach Chicago verschlägt und Du die Professur für Pädagogik, Psychologie und Philosophie an der Universität annimmst.1 Es sind aufregende Zeiten in Chicago. So einen großen Arbeiterprotest wie den gegenwärtigen Pullman-Strike hat es bisher noch nicht gegeben! Da hatte George Mortimer Pullman wohl gedacht, dass die Arbeiter ihm ewig danken würden für die firmeneigenen Häuser, die einen besseren Standard bieten als die Behausungen anderer Arbeiter. Und er meinte, seine Arbeiter würden deshalb die hohen Lohnkürzungen bei gleichbleibenden Mieten in Kauf nehmen. Jüngst bin ich dem Vermittlungsausschuss beigetreten und versuche, die Konflikte zu entschärfen. Vergangene Woche habe ich die streikenden Arbeiter in der Werkssiedlung Pullman besucht, habe mit einigen der Arbeiterinnen zu Abend gegessen und die Mietshäuser besichtigt.2
Die Arbeitsbedinungen und der Arbeitsschutz in Chicago lassen zu wünschen übrig; Krankheit und Hunger lauern überall, in unserem Stadtteil rund um Hull House ganz besonders. Mit unserem Settlement möchten wir dazu beitragen, die Lebensbedingungen in unserer Nachbarschaft erträglicher zu machen und mit den Menschen gemeinsam zu überlegen, wie ihre Situation verbessert werden kann-nicht über ihre Köpfe hinweg. Das scheint mir das Problem von Pullman zu sein. Er müsste mit den Arbeitern in Kontakt treten, um zu erfahren, was sie brauchen. Stattdessen erinnert er mich an König Lear aus Shakespeares Drama, der seine Tochter als ungerecht verdammt, weil sie ihm angeblich nicht genug Dankbarkeit für seine Großzügigkeit entgegenbringt, sondern ihre eigenen Ideen für ein gutes Leben hat.3
Ich denke, dass unser demokratisches Zusammenleben auf der Einsicht fußen muss, dass die verschiedenen Klassen der Gesellschaft gegenseitig voneinander abhängig sind.4 Dazu sind Kooperation und gegenseitige Verantwortung unablässig, nicht mehr nur im persönlichen und familiären Bereich, sondern auch bei der Ausübung sozialer Verpflichtungen. Darum bemühen wir uns in Hull House, und ich denke, das ist auch Deine Idee von Schule als Ort von Demokratieerziehung, nicht? Aber das könnten wir ja bei der nächsten Tasse Tee besprechen, wenn Du bald wieder bei uns in Hull House vorbeischaust. Und vielleicht kann ich Dich ja endlich überreden, Mitglied des Hull House Board of Directors zu werden.5
In Vorfreude auf unser nächstes Gespräch. Lebe recht wohl, John.
Jane
1:Vgl. hierzu z.B. Oelkers, Jürgen (2009): John Dewey und die Pädagogik. Weinheim u.a.: 208.
2:Vgl. Harvey, B. C. (2015): Jane Addams: Social Worker and Nobel Peace Prize Winner. Berkeley Heights, NJ: 68. Siehe auch: Knight, L.W. (2006): Citizen: Jane Addams and the Struggle for Democracy. Chicago and Illinois.
3:Vgl. http://www.sojust.net/speeches/addams_lear.html.
4:Auch Daniel Tröhler betont Addams‘ Auffassung davon, “dass die verschiedenen Klassen der Gesellschaft gegenseitig voneinander abhängig sind und dass eine soziale Beziehung als ‚a reciprocal relation‘ zu verstehen sei. ‚Hull House‘, sagt sie, ‚was opened on the theory that the dependence of classes on each other is reciprocal [...]‘“. Vgl. Tröhler, Daniel (2005): Moderne Grossstadt, soziale Gerechtigkeit und Erziehung. Der frühe Pragmatismus am Beispiel von Jane Addams. In: Jürgen Oelkers & Tröhler, Daniel (Hrsg.), Pragmatismus und Pädagogik. Zürich: 99.
5:Hierzu erläutert Inga Pinhard: „Addams spricht vom ersten Board of Trustees, allerdings ist die Wahl Deweys erst für die Sitzung der Hull House Trustees vom 13.04.1897 belegt. Im Kontrast zu Deegan datiert [Charlene Haddock] Seigfried (…), wie von Addams selbst impliziert, den Eintritt Deweys in den Board of Directors bereits auf das Jahr 1895.“ Pinhard, Inga (2009). Jane Addams: Pragmatismus und Sozialreform: pädagogische Theorie und Praxis der Progressive Era. Opladen u.a.: 179 (Fußnote 154).
Zum LiteraturverzeichnisWie die US-Soziologie von der Sozialen Arbeit getrennt wurde (verfasst von Katharina Weyland)
1. Einleitung
Die Geschichte einer Disziplin und ihrer Entstehung ist wichtig für ihr eigenes Selbstverständnis sowie für ihr Verhältnis zu anderen Disziplinen und zu der Gesellschaft, die sie umgibt. Es ist auch die Geschichte, die an den Nachwuchs weitergegeben wird und ihn damit in die eigene Zunft einführt und sozialisiert1. Im folgenden Artikel möchte ich die Entstehungsgeschichte der beiden Disziplinen Soziologie und Soziale Arbeit in den Vereinigten Staaten darstellen. Unter Rückgriff auf die Arbeit von Patricia Lengermann und Jill Niebrugge (2007) bediene ich mich dabei drei unterschiedlicher Narrative über die Genese der beiden Disziplinen: der Natural History, die die Entstehung der beiden Disziplinen als voneinander unabhängig und getrennt versteht; der Social History, die gemeinsame Ursprünge ausmacht und dann eine Ausdifferenzierung feststellt bis hin zur vollkommenen Trennung der beiden Disziplinen in die akademisch-wissenschaftliche Soziologie und die tatkräftig-praktische Soziale Arbeit; und schließlich der Critical History, die eine kritische geschichtswissenschaftliche Perspektive einnimmt mit dem Ziel, blinde Flecken und tendenziöse Aspekte in der bisherigen Geschichtsschreibung aufzudecken und damit insbesondere diskriminierte und marginalisierte Player in ihrer Bedeutsamkeit zu rehabilitieren und somit die bestehenden Narrative für eine Neuinterpretation zu öffnen2.
2. Critical History
Das dritte Narrativ erzählt von denjenigen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung vergessen bzw. absichtlich herausgeschrieben worden sind (ebd., S. 93). Von den drei Narrativen über das Verhältnis von Soziologie und Sozialer Arbeit ist es das Einzige, in dem das ‚settlement movement‘ überhaupt vorkommt. Dabei ist es die Arbeit in den ‚settlement houses‘, in denen Soziologie und Soziale Arbeit in den Jahren 1885-1920 auf natürliche Weise in einer „science of reform“ (ebd., S. 94, 98) vereinigt waren und deren Ziel es war, Reformen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis herbeizuführen (ebd., S. 94). Die ‚settlement sociologists‘ verstanden ihre Arbeit als nahtlose Verbindung von Theorie und Praxis (ebd.). Zum Anderen ist es ein Anliegen der Critical History, die Leistungen der Frauen, ihre Errungenschaften und Pionierarbeiten in der Soziologie sichtbar zu machen (ebd., S. 93).
2.1 Pionierarbeit im "Settlement House"
Das "settlement movement" als Ort und Bewegung, in der die Potentiale der Soziologie und der Sozialen Arbeit zum Tragen kamen und sich gegenseitig beflügelten, hatte den einzelnen Disziplinen gegenüber immense Vorzüge: „it had a coherence of theory, method, practice, and purpose; it had a major theorist in Addams; it had an ongoing process of communication through the settlement networks and publications; and it had a research agenda that focused on producing major social reforms. Where academia constrained sociology and the bureaucratic caseload controlled social work, the settlement sociologists worked from a base that they had constructed, could adjust, was consistent with their sense of sociology, and had a built-in practice of reflexivity."3 Die Settlement-Bewegung und insbes. Hull House (vgl. ebd.) brachte eine spezifische Theorie, eine spezifische Methodologie und einen beeindruckenden Corpus an Wissen hervor, das tatsächlich auch soziale Reformen auslöste. Anders als die beiden Nachbardisziplinen war ihr Wirken auf strukturelle, soziale Reformen ausgerichtet.
2.2 Gender Politik
Im Jahr 1870 gingen 1% der Amerikaner aufs College, davon 20% Frauen; im Jahr 1900 gingen 4% der Amerikaner aufs College, davon 36 % Frauen (vgl. ebd., S. 96). Aber — das war das große Paradox — nach dem Abschluss gab es praktisch keine beruflichen Möglichkeiten für Frauen: „The great contradiction of the revolution in women’s higher education was that it prepared the first college graduates for a world of opportunities that did not really exist ... Thus the problem of what to do after graduation was a troubling one for the first generation of college women“4. In dieser politischen Situation war das "settlement movement" eine Bewegung und ein Ort, an dem (weiße) Frauen einen Beruf ausüben konnten und von dem aus sie das öffentliche Leben beeinflussen und „auctoritas“ (Einfluss, Autorität) erlangen konnten (vgl. ebd., S. 95, S. 102, S. 103). Dabei wird Jane Addams als Proto- und Archetyp verstanden, wie sich eine Frau in das öffentliche Leben und in die amerikanische Soziologie eingebracht hat (vgl. ebd., S. 94). Schwarze Frauen hatten es dagegen deutlich schwerer. Sie konnten im Settlement nur als freiwillige Helferinnen ihren Beitrag leisten; eine Berufstätigkeit war ihnen auch dort nicht möglich (vgl. ebd., S. 95). Jane Addams definierte das Settlement auch als „life choice“ im Gegensatz zu anderer traditioneller Sozialer Arbeit (ebd., S. 96). Arbeit im Settlement war also kein „nine-to-five-job“, sondern eine Entscheidung für ein Leben und Arbeiten im 'settlement house'.
2.3 Ablehnung von beiden Seiten
Die Settlement-Bewegung fühlte sich beiden entstehenden Disziplinen nahe, wurden aber von beiden Disziplinen abgelehnt: Die Soziologie lehnte die Settlement-Bewegung als zu unwissenschaftlich und „too practical“ ab; die Soziale Arbeit lehnte sie als zu theoretisch und abstrakt ab (vgl. ebd., S. 107). Die Soziale Arbeit, die sich ganz in der Ethik der „self-reliance“ (Selbständigkeit, Selbstverantwortung) verortete (vgl. ebd., S. 108), kritisierte außerdem, dass die Settlement-Bewegung statt auf unmittelbare Hilfe für das Individuum auf große strukturelle Reformen setzte: „The former [die Sozialarbeiter] would find the most natural and effective way out […], the other [z.B. die residents der settlements] would say that the whole social order was wrong ...“5. Dies war tatsächlich ein substantieller Konflikt zwischen den beiden Bewegungen. Denn wo die Soziale Arbeit das Individuum in der Verantwortung sah, machte sich Jane Addams für eine soziale Ethik stark, um strukturelle Probleme, wie den Mangel an Organisation („lack of organization“ — gemeint sind beispielsweise gewerkschaftliche Organisationen), anzugehen (vgl. ebd., S. 108). Lengermann & Niebrugge bezeichnen die Position der Settlement-Bewegung treffend als „the radical middle“ — zwischen Soziologie und Sozialer Arbeit (vgl. ebd., S. 109). Die Ablehnung von beiden Seiten führte lange Zeit dazu, dass die Settlement-Bewegung ausgegrenzt und aus der Entstehungsgeschichte der Disziplinen ‚herausgeschrieben‘ wurde. Die Diskriminierung von Frauen und die damit verbundene Abwertung und Ignoranz ihrer Arbeit führte ebenfalls dazu, dass die settlement sociology nicht überlebt hat (vgl. ebd., S. 110).
3. Das Narrativ der ‚Natural History‘
Die amerikanische Soziologie versteht sich aus der Perspektive dieses Narrativs als nahtlose Fortsetzung ihrer europäischen Ursprünge (vgl. ebd., S. 68). Dabei wird der Transfer europäischer Ideen und Konzepte nach Amerika als unproblematisch betrachtet, als Kontinuum ohne Brüche. Philosophen wie der französische Auguste Comte (Begründer des Positivismus)6 und der englische Herbert Spencer (1820-1903, Vordenker des Sozialdarwinismus) (vgl. ebd., S. 68, S. 80), aber ganz besonders auch deutsche Wissenschaftler wie Georg Simmel und Max Weber gelten als prägende Vordenker (vgl. ebd., S. 68). Aus der Perspektive dieses Narrativs ist die Geschichte der Soziologie eine Ideengeschichte, das heißt, eine Entwicklung soziologischer Theorien (vgl. ebd., S. 66) — und dezidiert nicht eine Geschichte der praktischen Anwendung dieser Theorien auf soziale Probleme (ebd., S. 70). Soziologen sind also diejenigen, die über soziale Phänomene nachdenken und dabei versuchen, allgemeine Prinzipien aufzudecken und als Theorien zu formulieren7. . In der ersten Einführung in die wissenschaftliche Soziologie der berühmten Soziologen Robert E. Park und Ernest Burgess aus dem Jahr 1921 mit dem Titel „Introduction to the Science of Sociology“ grenzten die Autoren die akademische Soziologie programmatisch von der Sozialen Arbeit und der Vorstellung ab, dass Soziale Arbeit eine Art angewandte Soziologie sei: „It is a fallacy [...] that social work has been, and is, applied sociology. [...] nothing could be farther from the truth. The origins of sociology and social work go back to different motives, they have pursued different paths, each has upon occasion been indifferent, hostile, or even contemptuous of the other“8. Hier wird der Unterschied der beiden Disziplinen nicht nur betont, sondern regelrecht inszeniert.
Die Geschichte der Sozialen Arbeit stellt sich in der Lesart der ‚Natural History‘ als eine Geschichte der praktischen Sozialen Arbeit, der Wohlfahrt, dar.9. Die Anfänge der Sozialen Arbeit werden entweder im Mittelalter gesehen oder im 19. Jahrhundert, wo man anfing, soziale Probleme systematisch anzugehen10, weil sie einen hohen Grad an Komplexität erreicht hatten und besonders massiv waren (vgl. ebd., S. 68). Das heißt, die Soziale Arbeit wurde dann zur Disziplin, als der Bedarf an sozialer Unterstützung vermehrt erkannt und in systematischer und organisierter Weise darauf reagiert wurde. Mit der Zeit verfeinern sich die Diagnose und die ‚Therapie‘ immer mehr. Dabei konzentrieren sich die Unterstützungsangebote und Interventionen auf das jeweilige Individuum, da die Ursache der sozialen Probleme weniger in strukturellen gesellschaftlichen Problemen gesehen wird, als vielmehr in einer unzureichenden oder fehlerhaften Anpassung des Individuums an seine Umwelt (vgl. ebd., S. 68). Für das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit ist wichtig, dass sie unmittelbar und direkt Hilfe leistet (und nicht ‚nur’ indirekt über eine Verbesserung gesellschaftlicher Makrostrukturen).11. Aus Sicht der Natural History sind die beiden Disziplinen von jeher fundamental verschieden und haben sich auch getrennt und unabhängig voneinander entwickelt (vgl. ebd., S. 68, S. 70).
4. Das Narrativ der ‚Social History‘
Das Narrativ der ‚Social History‘ nimmt eine sozial- bzw. gesellschaftswissenschaftliche Perspektive auf die Geschehnisse ein: Nicht nur Ideen und Konzepte werden berücksichtigt, der Fokus liegt vielmehr auf den verschiedenen Playern, d.h. Menschen, Organisationen und Institutionen.12. In diesem Narrativ stellt sich die Entwicklung der Disziplinen folgendermaßen dar: In den Jahren kurz vor und dann vor allem nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (American Civil War, 1861-65) sind die beiden Domänen zunächst ungetrennt, sie haben gemeinsame Ursprünge, gemeinsame Interessen und das Ziel, die drängenden sozialen Probleme der Zeit zu lösen (vgl. ebd., S. 63, S. 73). Erst im Zeitraum 1890-1920 differenzieren sie sich in zwei Disziplinen aus. Das Jahr 1921 markiert die vollzogene Trennung der Disziplinen. Trotz dieser Ausdifferenzierung gab und gibt es eine ständige Auseinandersetzung zwischen den beiden Disziplinen— Annäherungs- und Abgrenzungs- bewegungen sowie Überschneidungen thematischer und personeller Art.13.
4.1 Gemeinsame Ursprünge
Der gemeinsame Ursprung beider Disziplinen liegt im "Social Science Movement",einer breiten demokratischen Bewegung im 19. Jahrhundert, die ihre Wurzeln im demokratischen Gedankengut Englands und Frankreichs sieht und sich verortet „in the grand tradition of the struggle for human betterment“.14 Im Kontext dieser breiten demokratischen Bewegungen gab es unzählige Wohltätigkeitsaktivitäten. Im Bestreben, die vielfältigen und disparaten Wohltätigkeitsaktivitäten zu bündeln und zu koordinieren, wurde im Jahr 1865 die American Social Science Association (ASSA) gegründet. Die Ziele, die sie sich auf die Fahnen geschrieben hat, waren: ‚scientific investigation‘ (d.h. Untersuchungen mit den Mitteln der Wissenschaft; vgl. ebd., S. 74), advocacy (Interessensvertretung, Anwaltschaft) und political reform (vgl. ebd.). An dieser dreifachen Zielsetzung lässt sich sehr gut erkennen, dass hier wissenschaftliche Ansätze und Methoden sowie das Eintreten für Bedürftige und politische Ziele noch vereint waren, die sich später auf die einzelnen Disziplinen aufgeteilt haben.
Ins gleiche Bild passt, dass die Organisation mit vielen anderen Gruppen und Reformbewegungen zusammenarbeitete und vielfältige Beziehungen zu anderen Bereichen der Gesellschaft pflegte: „women’s rights, temperance, education for African Americans, urban sanitation, community social services, abolition of sweatshops, against child labor, care for the indigent, the orphan, the elderly, the disabled, the incarcerated“ (ebd., S. 75-76), „Association for the Advancement of Women, Women’s Christian Temperance Union“ (ebd., S. 76).
In den 1880er Jahren kam es dann aber vermehrt zu kontroversen Diskussionen innerhalb der Organisation über ihre Zielsetzung und insbesondere über das Verhältnis von Forschung, Interessensvertretung und Reform.15,16
4.2 Ausdifferenzierung und Trennung der Disziplinen
Innerhalb der ASSA entstanden nach und nach immer mehr Untergruppen, die sichstärker spezialisierten und damit nur noch jeweils eines der drei Ziele verfolgten. Im Jahr 1909 löste sich die ASSA dann auf. Die disparaten Bestrebungen ließen sich nicht mehr länger unter einem Dach vereinigen.17 Soziale Arbeit war über Jahrzehnte hinweg eine Sache der ‚volunteeers‘, also der freiwilligen Helferinnen und Helfer, und war damit per se ‚unprofessionell‘ (vgl. ebd., S. 82). Allerdings hatte sie von Anfang an ein Zuhause, von dem aus sie arbeitete und als solche wahrgenommen wurde, nämlich eine breite Palette an staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen, von denen aus Wohlfahrt betrieben wurde. Zudem hatte sie eine eindeutige Klientel („clientele“, ebd., S. 82), die sozial Schwachen. Was der Sozialen Arbeit als Disziplin also noch fehlte, war Expertise (sowohl im eigenen Selbstverständnis als auch in den Augen der Öffentlichkeit) und gesellschaftlicher Status. Die Expertise kam im Jahr 1917 mit dem Buch „Social Diagnosis“ von Mary Ellen Richmond, das für die Zunft eine Methode lieferte, die kommunizierbar war und den Kern ihrer Expertise von nun an ausmachte: Fallarbeit (case study) mit einer Aura medizinischer Autorität (in der Fallarbeit wurde zuerst eine ‚Diagnose‘ erstellt ) (vgl. ebd., S. 83). Als die Generation der Freiwilligen wegbrach, wurden Trainingsprogramme und Ausbildungsinstitutionen eingerichtet (vgl. ebd., S. 82). „Freestanding schools of social work“ wurden auch an Universitäten angegliedert (vgl. ebd., S. 84). Die Art der Anbindung variierte gewaltig; gemeinsam war diesen Schulen, dass sie zunehmend von Frauen dominiert wurden bzw. Frauen in sie ‚abgeschoben‘ wurden.18
Im Gegensatz zur Sozialen Arbeit erfüllte die Soziologie im Jahr 1890 noch keines der Merkmale einer Profession. Sociology wurde an den verschiedensten Orten und von den unterschiedlichsten Personen praktiziert: an Universitäten und Colleges, staatlichen Einrichtungen, an COS (Charity Organization Societies), in kirchlichen Einrichtungen, von Gewerkschaften und in social settlements — und zwar von Intellektuellen und von normalen Bürgern. Sie hatte damit auch keine eindeutige Klientel, keine eindeutige Expertise und keinen offiziellen Status (und damit auch keinen Anspruch auf ein entsprechendes Gehalt).19 Die Soziologie nutzte die Zeit der Expansion und des Wandels in der Universitätslandschaft der USA in den 1880er und 1890er Jahren (vgl. ebd., S. 85), um sich zu etablieren und wählte im Zuge dessen die Universität, die „academy“.20 Im Jahr 1905 gründeten die Soziologen ihren eigenen Berufsverband, die American Sociological Association (ASS) an der John-Hopkins-Universität in Baltimore mit den Zielen, die soziologische Forschung und den wissenschaftlichen Diskurs unter wissenschaftlichen Soziologen zu fördern.
Die ASS veröffentlichte auch eine regelmäßig erscheinende Fachzeitschrift. Im Jahr 1905 hatte die Soziologie also ein Zuhause (die Universität), einen Fachverband, eine Fachzeitschrift, eine gewisse Anzahl an akkreditierten Fachmännern und einen gewissen Konsens über ihren Gegenstand. Was noch fehlte war eine kommunizierbare Methode und ein spezielles Corpus an spezifischem Wissen, das ihre Expertise ausmachte (vgl., ebd., S. 89). Das Jahr 1921 markiert dann den Zeitpunkt, an dem die Trennung der Disziplinen vollzogen war: In diesem Jahr gründeten auch die Sozialarbeiter ihren eigenen Berufsverband, die American Association of Social Workers (AASW) (später: National Association of Social Workers, NASW, 1955). Zeitgleich erschien ein für die Soziologie und ihre Profession entscheidendes Werk21, die erste Einführung in die Wissenschaft der Soziologie von Robert E. Park und Ernest Burgess, in der Soziologie als „the science of collective behaviour“ definiert wird22 und klar von der Sozialen Arbeit abgegrenzt wird: „it can be regarded as a fundamental science and not mere congeries fo social welfare programs and practices“.23 Es gehörte zum Selbstverständnis dieser akademischen Disziplin der Soziologie, dass parteiliches Engagement in sozialen Fragen die wissenschaftliche, objektive Erforschung sozialer Fragen behinderte. Akademische Soziologen wandten sich mehr und mehr quantitativen Verfahren zu (und der Verifikation von Hypothesen).24 Die Soziale Arbeit hingegen verstand sich als eine Dienstleistungsprofession, in der es darum ging, Bedürftige in praktischer und unmittelbarer Weise zu beraten und ihnen zu helfen. Ausbildungsstätten waren vom Rest der Universität klar abgegrenzt. Unausgebildete Arbeiter wurden aus dem Verband der Sozialarbeiter (der AASW) ausgeschlossen (vgl. ebd., S. 90). Inhaltliche Diskussionen über Theorie versus Praxis, activism & reform wurden überlagert von Gender-Fragen und politisch motivierten Typisierungen: Frauen seien für Soziale Arbeit gemacht aufgrund ihrer natürlichen Häuslichkeit und ihrem Missionseifer (vgl. ebd., S. 92). Außerdem seien sie zufrieden mit dem, was bezahlt werden könne.25 Männer hingegen seien nicht geeignet, mit den Bedürftigen zu arbeiten. Sie präferierten Arbeit mit „the normal human being“ (ebd.) und (so die Implikation) angemessene, gute Bezahlung.
4.3 Berührungspunkte
Parallel zu dieser eindeutigen Trennung der Disziplinen gab es aber auch Strömungen, in der nach wie vor die gemeinsamen Ursprünge kultiviert wurden oder zumindest über das Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Engagement und politischem Aktivismus gerungen wurde. Zwar wurde 1922 die Zeitschrift ‚Social Forces‘ gegründet, in der immer wieder das Verhältnis von Soziologie und Sozialer Arbeit diskutiert wurde. Die Sozialarbeiter fühlten sich aber von den Soziologen nicht wertgeschätzt und meinten, von Kursen in Soziologie für ihre Tätigkeit nicht profitieren zu können. 1925 beklagte sich M.J. Karpf, der Leiter einer großen Chicagoer Sozialagentur, dass „the sociologist looks down upon the social worker with [...] contempt [...] as persons who meddle in other people’s affairs, and [...] they do their work by rule of thumb“.26. Die zwei Professionen entfernten sich zunehmend voneinander.
5. Fazit
Die Trennung der Disziplinen hatte für die Soziologie zur Folge, dass sie bis heute keine klar definierte Sphäre der Berufsausbildung und der Erwerbstätigkeit hat und keine Basis, von der aus sie das Leben von Menschen direkt beeinflussen und verbessern kann. Die Soziale Arbeit hat wiederum nach wie vor damit zu kämpfen, dass sie noch immer nicht als ‚wirkliche‘ Autorität und Instanz mit Expertenwissen anerkannt wird, die mit Hilfe von spezialisiertem Wissen die Öffentlichkeit in sozialen Fragen leiten könnte (vgl. ebd., S. 11) Bis heute gibt es personelle Überschneidungen, Annäherungs- sowie und Abgrenzungsbewegungen zwischen den beiden Disziplinen. Auch heute wird über das Spannungsverhältnis von „objectivity“ versus „advocacy“ diskutiert. So plädierte ASA-Präsident Michael Burowoy im Jahr 2004 etwa dafür, dass die Soziologie eine aktivere Rolle in der Welt spielen sollte (vgl. ebd., S. 113).
Fußnoten
1vgl. Lengermann & Niebrugge 2007, S. 71
2 vgl. Lengermann & Niebrugge 2007
3 Lengermann & Niebrugge 2007, S. 98
4 Fitzpatrick 1990, S. 8
5 Ergänzungen KW, Trattner 1979, S. 198
6 vgl. ebd., S. 64, S. 68, S. 70, S. 80
7 „those who study the phenomena of social behavior“, Sydnor Walker of the Rockefeller Foundation 1928, zitiert nach: Lengermann & Niebrugge 2007, S. 70
8Park & Burgess 1921, S. 36
9„those who do social welfare“, Sydnor Walker of the Rockefeller Foundation 1928, zitiert nach Lengermann & Niebrugge 2007, S. 70
10„organize and systemize the giving of relief“ Burgess 1923, S. 362
11 vgl. Trattner 1979, S. 198
12 vgl. Lengermann & Niebrugge 2007, S. 72
13 vgl. Lengermann & Niebrugge 2007, S. 63, S. 73
14 vgl. Lengermann & Niebrugge 2007, S. 72
15 Im Jahr 1880 sprach sich Daniel Coit Gilman, Präsident der John Hopkins Universität und Präsident der ASSA deutlich für die Ausrichtung auf eine wissenschaftliche Soziologie aus: „This association is not a society for the promotion of reform, nor an assembly whose object is charity; but its object is the promotion of science“. Vgl. hierzu Haskell 1977/2000, S. 158
16 1886 wiederum sprach sich Samual Eliot, der zweite Präsident der ASSA, für die Ausrichtung auf soziales Engagement hin aus: Social Science sei „emphatically the science of reform“. Vgl. hierzu Bernard & Bernard 1943, S. 567
17 vgl. Lengermann & Niebrugge 2007, S. 80
18 vgl. ebd., vgl. Keller 2012, S. 32
19 vgl. Lengermann & Niebrugge, S. 85f
20 vgl. ebd., S. 82, vgl. Keller 2012, S. 69
21 vgl. Keller 2012, S. 30
22 „Introduction to the Science of Sociology“, Lengermann & Niebrugge 2007, S. 80; vgl. Keller 2012, S. 30
23 Park & Burgess 1924, S. 42
24 vgl. ebd., S. 90, S. 93; DeVault, 2007, S. 159; Keller 2012, S. 68
25 also mit niedrigen Löhnen, vgl. „to take what can be paid“, Shoemaker 1998, S. 187
26 Karpf 1925, S. 420
Verwendete Literatur
(Verfasst von Sofia Kohler)
Liebe Duygu,
nach vielen SMS-Nachrichten kommt nun endlich mein Brief an Dich. Ich hatte ja schon begonnen Dir von Jane Addams zu berichten. Sie hat sich über so viele Dinge schon Gedanken gemacht, die uns auch immer wieder zum Nachdenken bringen. Sie nimmt hier eine tragende Rolle ein und ist darüber hinaus bekannt als sehr charismatische Persönlichkeit. Diese Frau macht im Hull House einfach ihr Ding (sie lässt sich dabei nicht gerne was vorschreiben) und schafft es immer wieder, sehr viele Menschen um sich herum zu versammeln und für ihre Ziele zu begeistern. Diese vielen Menschen sind oft Frauen, die ihr Leben nicht in der Verbannung in die Privatsphäre führen wollen. Es gibt eine wahnsinnig (!) gute Novelle über eine bürgerliche Frau zu dieser Zeit, die eben dorthin verbannt wurde: „Die gelbe Tapete“ (1892) von Charlotte Perkins Gilman. Auch Addams kannte das Buch (das Ausrufezeichen verstehst Du, wenn Du sie auch gelesen hast).
Hier im Hull House leben eigentlich fast ausschließlich Frauen. Die wenigen Männer hier leben in einem separaten Gebäude. Das ist wichtig, meint Addams, um einen Raum für Frauen zu schaffen, der frei von psychischer und physischer Gewalt ist, der Selbstentfaltung zulässt und die Frauen von den gesellschaftlichen Erwartungen an sie und ihre Rolle als Frau loslöst. Laut Addams „enthält ein von Frauen dominierter Raum einzigartige Kräfte“ („a woman-centered space holds unique power”, das habe ich bei Hamington 2009 auf S. 51 gelesen). Zum Leben im Hull House gehört deshalb auch, dass Männer hier insgesamt relativ wenig zu sagen haben – die herrschenden gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse sind hier mal andersrum. Männer nehmen in der Regel auch keine Führungspositionen ein und sind eher bereichernde Gesprächspartner. Trotzdem lehnt Addams die politische Zusammenarbeit mit Männern nicht ab. Ganz im Gegenteil, wenn es um größere gesellschaftliche Probleme geht, ist sie fest davon überzeugt, „dass Frauen und Männer in öffentlichen Angelegenheiten am besten zusammen arbeiten“ (auch das habe ich von Hamington 2009, auf S. 52: „that men and women work best together on these public measures“). Feminismus ist definitiv nicht automatisch Männerhass!
George Herbert Mead und John Dewey sind oft in Hull House. Dewey lässt was bei Dir klingeln, oder? Den hatten wir im Seminar zu Bildungstheorien besprochen. Das war der, der viel über Erfahrungen und Demokratie schrieb – wir hatten damals Auszüge aus „Erfahrung und Natur“ (1995) und „Demokratie und Erziehung“ gelesen (1993). Demokratie war für ihn eine Lebensform – ich kann jetzt erst verstehen, was das wirklich bedeutet… Auch Addams vertritt die Meinung Demokratie müsse als Lebensform begriffen werden! Für beide ist Demokratie also der Austausch, die Beachtung und Wertschätzung der täglichen Erfahrung vieler Menschen unter- und miteinander.1. UWas wir im Seminar leider nie behandelt haben: Wir können Dewey und vor allem seine Demokratie- und Bildungstheorie um einiges besser verstehen, wenn wir uns ansehen, wie seine Erfahrungen im Hull House und seine Freundschaft mit Jane Addams ihn beeinflussten.2.
Feminismus und Pragmatismus können in Hull House nicht ohne einander; sie bereichern sich gegenseitig. Leider wurde das in philosophischen Debatten bis in die 1990er Jahre irgendwie vergessen, das habe ich bei Gregoratto gelesen (2018, auf S. 49). Nicht einmal die feministische Philosophie des 21. Jahrhunderts bezieht sich großartig auf diese Form des pragmatistischen Feminismus.3. Das ist vielleicht gar nicht so verwunderlich, denn leider kann der feministische Pragmatismus der Frauen hier vor Ort über Dewey hinaus nicht sehr viel Einfluss auf die Philosophie des Pragmatismus nehmen. Frauen haben hier kaum Zugang zu den Bildungsinstitutionen und wurden auch in den folgenden Jahrzehnten zudem häufig einfach als ‚schrill und dogmatisch‘ abgestempelt.4
Dabei haben beide Strömungen so viel gemeinsam: Aus der Perspektive des Pragmatismus und Feminismus wird davon ausgegangen, dass Erkenntnis entsteht, wenn verschiedene Standpunkte interagieren und kommunizieren; dabei sind auch die Standpunkte der Gruppen wichtig, die an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden. Innerhalb beider Strömungen wird der Objektivitätsbegriff neu gefasst, weil davon ausgegangen wird, dass es keinen neutralen, erfahrungsunabhängigen Standpunkt gibt. Daraus resultiert die Einsicht, dass unterschiedliche Perspektiven einbezogen werden müssen, um Erkenntnis oder Wissen zu erzeugen, und um an der Lösung von konkreten Problemen zu arbeiten.5. Nachdem ich das in Hull House gesehen habe, verstehe ich sogar Donna Haraway besser, wenn sie in ihren Ausführungen zu situiertem Wissen sagt, dass es kein ‚view from nowhere‘ gibt, und dass zu behaupten, es gäbe diese ortlose Perspektive, der ‚Gottestrick‘ sei! Ich weiß noch, dass wir beide bei dieser schwierigen Lektüre fast verrückt geworden sind…
Jedenfalls ist diese Aushandlung der pluralen Standpunkte quasi das Herz einer pragmatistisch-feministischen Theoriebildung6 Außerdem wird bei beiden Strömungen versucht, die traditionellen philosophischen Dualismen aufzulösen, also sowas wie Geist vs. Leib oder Vernunft vs. Emotionalität. Stattdessen zeichnen sie ein Bild vom Individuum, das sowohl Produzent*in als auch Produkt sozialer Aushandlungsprozesse ist. Also: Pragmatist*innen und pragmatistische Feminist*innen gehen davon aus, dass Individuen sich in Interaktionen mit Personen oder der Umwelt bilden und gebildet werden. So werden Gemeinschaften verflochten. Und: beide streben nach multidisziplinären Arbeitsweisen – klar, weil die Standpunkte so verschieden wie möglich sein sollen.7 Hätte ich das alles mal VOR der Hausarbeit für das Seminar zu Bildungstheorien gewusst!!
Das war jetzt alles furchtbar theoretisch. Aber nicht so bei den Hull House-Bewohner*innen! Für die ‚pragmatischen Feminist*innen‘, auch wenn sie sich nicht so nennen, verhalten sich Theorie und Praxis dynamisch zueinander, beeinflussen sich gegenseitig.8 Die Arbeit in Hull House (auch die wissenschaftliche) geht von den Erfahrungen der Sozialarbeiter*innen aus und fließt dann wieder in die Arbeitspraxis ein.9 Erfahrung und Wissen sind keine Gegensätze, sondern miteinander verbunden; Erfahrungen werden reflektiert und dadurch zugänglich. Probleme der Wissenschaft sind also Probleme des täglichen Lebens in konkreten Situationen.10 Die Bewohner*innen wären verwundert oder eher wütend, wenn sie wüssten wie bei uns noch immer konkrete Praxiserfahrungen und -erzählungen in den Seminaren abgewertet werden…
Als übergeordnetes Ziel wollen Addams und die anderen Frauen soziale und politische Reformen erreichen, wobei sie versuchen intersektional zu denken und zu arbeiten. Das heißt: Machtstrukturen finden sich nicht nur in Gender-Konstrukten. Auch ‚race‘, Klasse und andere soziale Faktoren überschneiden sich – so entstehen Mehrfach-Diskriminierungen.11 Schließlich fordert Addams auch mehr als den liberalen Feminismus. Ein Feminismus, der sich lediglich dafür einsetzt, dass Frauen die gleichen Rechte wie Männer haben oder für die gleiche Arbeit gleich bezahlt werden, reiche nicht aus.12 Ich habe Dir doch von „Feminismus für die 99%“13 erzählt, das steht da auch so ähnlich. Es reicht nicht, ein paar mehr Frauen in Führungspositionen zu haben, denn es sind es nach wie vor primär Frauen, insbesondere Women of Colour, die ausgebeutet werden.
Es sind die wenigen Frauen, die durch den liberalen Feminismus profitieren, und viele andere bleiben als Verliererinnen in schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen zurück. Denn: Wer passt auf die Kinder in der Kita auf? Wer reinigt Büros und Firmen? Von wem werden unsere Kleider genäht? Das sind alles nach wie vor überwiegend schlecht bezahlte Frauenberufe.14 Besonders deutlich ist das gerade in der Coronakrise, von der Du mir ja immer wieder schreibst. Plötzlich wird unübersehbar: systemrelevante aber gleichzeitig unterbezahlte Arbeit ist nach wir vor überwiegend Frauenarbeit. Addams war schon vor 120 Jahren der Meinung, dass deshalb ein ‚liberaler‘ Feminismus nicht ausreicht. Stattdessen müssten wir grundlegend soziale Strukturen infrage stellen und verändern15, wobei intersektionales Denken oder andere Formen, verschiedene Differenzierungen zusammenzudenken, die wichtigste Voraussetzung ist.16.
In Bezug auf das Thema ‚Gender‘ glaubt Addams, dass angeblich typisch ‚weibliche‘ Charaktereigenschaften unglaublich wertvolle Eigenschaften sind. Insbesondere wenn es um den Anspruch der Weiterentwicklung von Gesellschaft, hin zu einer solidarischeren Gesellschaft, geht. Die ‚weibliche‘ Fähigkeit zur Fürsorge wird von ihr auch immer wieder als wert- und kraftvoll betont.17 Das Geniale ist: obwohl sie über ‚weibliche‘ Charaktereigenschaften schreibt, würde sie diese niemals als natürlich oder angeboren betrachten. Du musst Dir das mal überlegen: diese Frau denkt schon im 19. Jahrhundert konsequent konstruktivistisch! Sie sagt zwar, dass weiblichen Personen gewisse Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, aber sie sieht auch, dass diese historisch entstanden sind.18 Jane Addams setzt sich also schon sehr früh mit Themen wie Gender oder Intersektionalität auseinander, auch wenn sie die Begriffe noch nicht so verwendet, wie wir es in den Diskussionen um Gleichberechtigung im 21. Jahrhundert tun. An der Uni habe ich den Ausdruck dafür gelernt: intersektionaler Feminismus ‚avant la lettre‘!
Dass ‚weibliche‘ Eigenschaften verallgemeinert werden, führt häufig zu Determinismus – also so etwas wie: ‚Frauen sind eben empathischer als Männer und deshalb sollten sie sich um die Kinder der Familie kümmern. Das ist so, das war schon immer so und das wird auch immer so bleiben‘. Das verurteilt Addams scharf. Sie war also definitiv keine Essentialistin!19 Addams geht sogar noch einen Schritt weiter: Gender sei zwar historisch entstanden, aber beinhalte auch immer kreative Antworten auf konkrete Kontexte.20 Das heißt, dass Subjekte – also konkrete Personen – aktiv sind und nicht nur von außen bestimmt werden! Ich finde sie deshalb wahnsinnig sympathisch und faszinierend. Sie vereint so viele verschiedene feministische Problemstellungen und Theorieströmungen in ihrer Arbeit und ihren Schriften, ohne dass sich die verschiedenen Ansichten einander widersprechen oder ausschließen würden.21
Nicht einmal den sozialistischen Feminismus hat die gute Addams vergessen. Zwar bezeichnet sie sich selbst nicht unbedingt als Sozialistin, aber sie unterstützt die Ansichten von Florence Kelley, Mary Kenney oder Eugene Debs, die sich selbst als solche bezeichnen. Addams vertritt wie die anderen Frauen die Ansicht, „dass die Unterdrückung der Frau ganzheitlich in Klassenkämpfe verstrickt ist“ (ich habe das Original-Zitat übersetzt: “that women’s oppression is integrally enmeshed in class struggle” bei Hamington 2009, S. 50). Also: sie denkt immer mit, dass es Klassenunterschiede und -kämpfe gibt, gesellschaftliche (Macht)Verhältnisse sieht sie trotzdem nicht als unveränderbar, also deterministisch. Die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflussen uns zwar, aber wenn es nach Addams geht, haben Individuen immer die Möglichkeit, offen und kreativ auf konkrete Situationen zu reagieren. Subjekte sind eben nicht nur passiv und formbar. Sie ist deshalb super optimistisch, wenn sie sich eine bessere Welt vorstellt. Das Bild von Menschen, die Probleme kreativ lösen und spontan handeln können, ist natürlich notwendig, um Veränderung denken zu können.22
Ich hoffe, ich habe Dich nicht erschlagen, aber hier ist so viel los und ich kann unglaublich viele bereichernde Erfahrungen sammeln. Trotzdem ist es schade, dass wir das nicht zusammen erleben und ich Dir nur diesen Brief von der spannenden Arbeit in Hull House und Jane Addams‘ Gedanken schreiben kann. Ich freue mich sehr darauf, Dich bald wieder zu sehen und über Feminismen zu diskutieren! Ich habe Dir auf jeden Fall noch eine Menge über den pragmatistischen Feminismus im Hull House zu berichten und bin gespannt, was Du dazu zu sagen hast!
Ich umarme Dich und Deine Kleinen, Agathe
P.S.: Das hier sind die Bücher, die ich für den Brief verwendet habe. Vielleicht passt das eine oder andere zu Deinem Hausarbeitsthema. Ich hoffe, Du kommst trotz geschlossener Kitas gut zum Schreiben?
Fußnoten
1 vgl. Sullivan 2001 S. 66.
2 vgl. Hamington 2009 S. 51f.
3 vgl. Rumens & Kelemen 2010 S. 138
4 vgl. auch das habe ich bei Rumens & Kelemen 2010 gelesen, auf S. 134
5 vgl. Gregoratto 2018 S. 363-365
6 vgl. Rumens & Kelemen 2010 S. 142
7 vgl. Gregoratto 2018 S. 363-365
8 vgl. Sullivan 2001 S. 65.
9 vgl. Gregoratto 2018 auf S. 363 und 367
10 vgl. Rumens & Kelemen 2010 S. 132f.
11 vgl. Gregoratto 2018, S. 363 u. 367.
12 vgl. Hamington 2009 S. 49
13 vgl. Arruzza, Fraser & Bhattacharya 2019.
14 vgl. Arruzza, Bhattacharya, Fraser 2019, S. 61 f.
15 vgl. Hamington 2009 S. 49.
16 vgl. Gregoratto 2018. S. 363 u. 367.
17 vgl. Hamington 2009 S. 50f.
18 vgl. Hamington 2009 S. 50f.
19 vgl. Hamington 2009 S. 50f.
20 vgl. Rumens & Kelemen 2010, S. 140.
21 vgl. Rumens & Kelemen 2010, S. 138
22 vgl. Hamington 2009 S. 49f.
Verwendete Literatur
John Deweys Auseinandersetzung mit dem Reflexbogenkonzept als Grundlage pragmatistischer Handlungstheorie (Verfasst von Lennart Harting)
John Dewey (1859-1952) veröffentlichte 1896 den Aufsatz „The Reflex Arc Concept in Psychology“1 1 in der Zeitschrift Psychological Review. Im Zuge des fünfzigjährigen Jubiläums der Zeitschrift wurde dieser Artikel von 70 der bekanntesten ameri-kanischen Psychologen zum einflussreichsten seit Bestehen der Zeitschrift ausgewählt.2 Die deutschsprachige Übersetzung „Die Elementareinheit des Verhaltens“ wurde im Sammelband „Philosophie und Zivilisation“ im Jahre 2003 publiziert. In diesem Artikel kritisiert Dewey nicht nur das damals weit verbreitete behavioristische Organisationsprinzip des Reiz-Reaktions-Schemas. Vielmehr revolutioniert Dewey es, indem er die Empfindung (Reiz) und Handlung (Reaktion) nicht losgelöst voneinander betrachtet, sondern sie innerhalb eines Schaltkreises (circuit) in Beziehung setzt („What we have is a circuit, not an arc or broken segment of a circle”.3 Martin Suhr entlehnt daraus die deutsche Übersetzung des ‚Schaltkreises’4.) in Beziehung setzt. Dewey spricht von der „unity of the act“ und konzipiert Handlungen somit als Einheit. Reiz und Reaktion verweisen wechselseitig aufeinander. In diesem Aufsatz legt Dewey die erkenntnistheoretische Grundlage für die Überwindung des Subjekt-Objekt-Dualismus, einer für die Philosophie bis dahin leitende Vorstellung. Der Reflexbogenaufsatz gilt damit als paradigmatisch für die Formulierung der pragmatistischen Handlungstheorie, in der Wahrnehmung als Teil der Handlung betrachtet wird. Dewey kritisiert am Reflexbogenkonzept, das in Abgrenzung zu gängigen psychologischen Reiz-Reaktionsmodellen der damaligen Zeit entwickelt worden war, dass es den Dualismus zwischen Reiz und Reaktion fortschreibe: „[T]he older dualism of body and soul finds a distinct echo in the current dualism of stimulus and response. Instead of interpreting the character of sensation, idea and action from their place and function in the senso-motor circuit, we still incline to interpret the latter from our preconceived and preformulated ideas of rigid distinctions between sensations, thoughts and acts.“5
Handlungen beginnen demnach also bereits mit der aktiven Reizauswahl, und erst durch die Handlung wird festgelegt, welches der Reiz ist, auf den die Handlung reagiert. An die Stelle des Reflexbogens tritt die Vorstellung eines ‚Schaltkreises‘, in welchem Reiz und Reaktion in einer Art Kreis ständig erweitert werden.6 Dewey schreibt:
„was wir brauchen, ist, dass sensorischer Reiz, zentrale Verknüpfungen und motorische Reaktionen nicht länger als getrennte Entitäten, sondern Arbeitsteilungen, als dienende Fakto-ren innerhalb des einzelnen konkreten Ganzen angesehen werden, das jetzt als Reflexbogen [circuit, Anm. d. Verf.] bezeichnet wird.“7 Im Original: „The sensory stimulus is one thing, the central activity, standing for the idea, and the motor discharge, standing for the act proper, is a third. As a result, the reflex arc is not a comprehensive, or organic unity, but a patchwork of disjointed parts, a mechanical conjunction of unallied processes. What is needed is that the principle underlying the idea of the reflex arc as the fundamental psychical unity shall react into and determine the values of its constitutive factors. More specifically, what is wanted is that sensory stimulus, central connections and motor responses shall be viewed, not as separate and complete entities in themselves, but as divisions of labor, function factors, within the single concrete whole, now designated the reflex arc”.8
Es geht nun nicht länger um eine Summe aus „Empfindung – Idee – Bewegung“9, also um ein ‚Nacheinander-Dazu-Kommen‘, sondern um eine ‚Koordination‘ dieser Komponenten, als vermittelndes Element. Dadurch ist es ihm möglich, dem Reflexbogen einen zirkulären Charakter beizumessen und ihn zu einem Schaltkreis zu machen. Durch die ‚Koordination‘ von Reiz und Reaktion sei eine kontinuierliche Erweiterung der Erfahrung für das Individuum möglich. Diese Veränderung veranschaulicht Dewey an einem Beispiel, bei dem ein Kind nach einer Kerzenflamme greift.10
„Die gewöhnliche Interpretation würde sagen, die Empfindung des Kerzenlichts ist ein Reiz für das Ausstrecken der Hand als Reaktion, das resultierende Sich-Verbrennen ist ein Reiz für das Zurückziehen der Hand als Reaktion usf.“11
Die Empfindung des Kerzenlichtes (peripherer Reiz) würde demnach die Handlungsidee (zentrale Aktivität) vorgeben, von der aus der Handlungsakt (motorische Reaktion) erfolge. An dieser Stelle sieht Dewey die Schwachstelle der herkömmlichen Auffassung des Reflexbogens: Der sensorische Reiz ist nicht lediglich der Blick zur Kerze (was einer motorischen Bewegung gleichkäme), vielmehr setzt der Reiz eine lange Kooperationsgeschichte zwischen Auge und Hand voraus.12 Somit ist in die-sem Beispiel der erste Teil des Handlungsverlaufes die aktive Wahrnehmung und Inter-pretation des Reizes (hören, fühlen, sehen und verstehen). Im zweiten Teil wird die Verbindung zum ersten hergestellt, indem eine handlungspraktische Interpretation der Wahrnehmungen erfolgt.13 Das Besondere und Wesentliche an Deweys Auffassung ist hier die ein tretende Koordination, welche beide Teile miteinander verbindet: „Das Ausstrecken der Hand seinerseits muss das Sehen sowohl stimulieren wie kontrollieren. Das Auge muss auf die Kerze gerichtet bleiben, wenn der Arm seine Arbeit tun soll; sobald es wandert, übernimmt der Arm eine andere Aufgabe. Mit anderen Worten, wir haben die Koordination jetzt erweitert und transformiert; der Akt besteht nicht weniger als zuvor im Sehen, aber er besteht nun im Sehen-um-Zwecke-zu-erreichen“.14 (Im Original: „The reaching, in turn, must both stimulate and control the seeing. The eye must be kept upon the candle if the arm is to do its work; let it wander and the arm takes up another task. In other words, we now have an enlarged and transformed coordination; the act is seeing no less than before, but it is now seeing-for-reaching purposes”.15)
Infolgedessen wird nicht nur der Zerfall in einzelne Komponenten verhindert (also ein wiederholendes Ersetzen von Erfahrungen), sondern die Reaktion erweitert bzw. transformiert die Erfahrung. Demnach ist „die so genannte Reaktion […] nicht lediglich eine Reaktion auf den Reiz; sie ist sozusagen eine Reaktion in ihn hinein. Das Sich-Verbrennen ist das ursprüngliche Sehen, die ursprüngliche optisch-okulare Erfahrung, deren Wert erweitert und transformiert worden ist. Es ist nicht länger bloßes Sehen; es ist Sehen eines Lichts, das Schmerz bedeutet, wenn Kontakt eintritt.“16 (Im Original: „the so-called response is not merely to the stimulus; it is into it. The burn is the original seeing, the original optical-ocular experience enlarged and transformed in its value. It is no longer mere seeing; it is seeing-of-a-light-that-means-pain-when-contact-occurs.“.17)
Mit dieser Perspektive also werden Reiz und Reaktion nicht mehr als getrennt voneinander gedacht, sondern sie bringen sich vielmehr wechselseitig hervor. Diese Idee der Wechselseitigkeit ist eine Grundfigur pragmatistischen Denkens, die in der Folge auch von Deweys Kolleginnen und Kollegen aufgegriffen wurde – etwa von George Herbert Mead und Jane Addams. Dewey und Mead waren tatsächlich häufig zu Gast in Hull House. Ob sich jedoch bei einem der gemeinsamen Abendessen tatsächlich das Kind von Florence Kelley an einer Kerze verbrannt hat, wissen wir nicht.
Fußnoten
1 Englische Originalfassung: https://brocku.ca/MeadProject/Dewey/Dewey_1896.html (online abgerufen: 16.01.2020)
2: vgl. Suhr 2005: 33
3 Dewey 1896: 363
4 Suhr 2005: 33
5 Dewey 1972: 96f
6 vgl. Suhr 2005: 33
7 Dewey 2003: 230-231
8 Dewey 1896: 358
9 Suhr 2005: 35
10 vgl. Suhr 2005: 33-36
11Im Original: „The ordinary interpretation would say the sensation of light is a stimulus to the grasping as a response, the burn resulting is a stimulus to withdrawing the hand as response and so on“ (Dewey 1896: 358).
12 vgl. Suhr 2005: 35
13 vgl. Strübing 2005: 61
14 Dewey 2003: 232
15 Dewey 1896: 359
16 Dewey 2003: 232-233
17 Dewey 1896: 359-360
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