Wart Ihr schon einmal im Historischen Lesesaal der Tübinger Universitätsbibliothek? Und habt Euch gefragt, weshalb dort eine Szene aus der Odyssee als Wandgemälde abgebildet ist? Wenn Ihr das tut, kommt Euch vielleicht ein ähnlicher Gedanke wie er einer von uns einmal kam: nämlich dass die Seelen der Toten dann erwachen können, wenn wir uns mit dem befassen, was sie uns hinterlassen haben. Etwa ihren Büchern.
Und da in diesen Tagen der Trend nicht nur zum Zweitbuch geht, sondern auch zum Smartphone, dachten wir, wäre es vielleicht eine gute Idee, nach neuen Formen zu suchen, wie Wissen aus vergangenen Zeiten und aus alten Büchern zum Leben erweckt werden und in eine zeitgemäße Form gebracht werden kann. (Natürlich sind gedruckte Bücher weiterhin zeitgemäß und werden es hoffentlich immer bleiben.) Und da blieb uns eigentlich *fast* nichts Anderes übrig als einen Webcomic zu machen, der für die Lektüre auf mobilen Endgeräten optimiert ist, und bei dem Text und Bild eine harmonische Einheit bilden, so dass beim Lesen nicht nur Neugierde geweckt, sondern auch Vergnügen entstehen kann.
Aber welches Wissen ist es denn nun, für das wir eine zeitgemäße Form suchen? Nun, in unserem Fall ist das die empirische Sozialforschung, ihre Geschichte und ihre Anfänge. Es geht uns darum zu zeigen, dass auch früher schon Frauen Wissenschaft betrieben haben, aber dass dies in der Folgezeit häufig vergessen wurde. Was unseren Fall darüber hinaus spannend macht, ist, dass die Forscherinnen, die in unserer Geschichte vorkommen, ein Wohn- und Arbeitskollektiv gebildet haben. Dabei war der Ort der Forschung nicht etwa die ferne Südsee, sondern die unmittelbare Wohnumgebung, die großstädtische Lebenswirklichkeit von Chicago am Ende des 19. Jahrhunderts. Hiervon handelt unsere Geschichte, und weil wir darin vieles entdeckt haben, was überraschend aktuell ist, erzählen wir die Geschichte in einer Form, die hoffentlich diesseits wie jenseits des universitär-akademischen Tellerrands hinaus für lesenswert gehalten wird.
„Pragmatism reloaded – die Siedlerinnen von Hull House“ – hinter diesem Titel verbirgt sich eine ganze Menge. Fangen wir am besten von hinten an. Hull House heißt das Wohnprojekt, in dem große Teile des Webcomics spielen, und zwar in Chicago am Ende des 19. Jahrhunderts. In Anlehnung an den Begriff des „settlements“ (wie man damals solche Wohnprojekte bezeichnete) nennen wir unsere Protagonistinnen die „Siedlerinnen“, weil damit der Pionierinnengeist sehr gut einfangen wird, von dem die Settlement-Reformbewegung und damit auch Hull House getragen waren. (Ehrlich gesagt hatten wir die Idee, weil ein paar von uns ein ähnlich lautendes Spiel lieben.) Leben und Arbeiten in Hull House war von vielen verschiedenen Strömungen und geistigen Einflüssen geprägt. Eine davon war die Philosophie des Pragmatismus, wie sie unter anderem an der Universität von Chicago entwickelt wurde und mit deren Philosophen freundschaftliche Kontakte bestanden. In Hull House wurde eine besondere Spielart des Pragmatismus gelebt und vertreten, die später einmal als „praktischer Pragmatismus“ oder auch „kritischer Pragmatismus“ (Deegan 1988/2000 – hier gehts zur Literatur) bezeichnet wurde. Deswegen, und weil die Philosophie des Pragmatismus aktuell ein Revival in Europa erlebt, haben wir unserem Webcomic diesen Titel gegeben.
Nicht nur die Arbeit der Siedlerinnen von Hull House, sondern auch unser Projekt ist Kollektivarbeit. Diejenigen von uns, die im engeren Sinn an der Fertigstellung gearbeitet haben, sind Teil des „Grünbergkollektivs“ – auf der „über uns“-Seite erfahrt Ihr mehr zu uns. Vielen weiteren Beteiligten möchten wir an dieser Stelle danken: zuerst einmal allen Teilnehmenden des Masterseminars „Chicagoer Pragmatismus in Theorie und Praxis. Ursprünge empirischer Sozialforschung in den USA“ im Wintersemester 2019/20. Ein Semester lang wurden Texte von Jane Addams, John Dewey, George Herbert Mead und anderen diskutiert, wir stritten über Demokratie, ekelten uns beim Gedanken an Straßen voller Müll, versuchten pragmatistische Handlungstheorie und die Bedeutung des Reflexbogenkonzeptes zu verstehen und machten uns nebenbei immer wieder Gedanken darüber, was all das mit einem Comic zu tun haben könnte. Aus dem Kreis der Seminarteilnehmenden danken wir besonders David Ratzel, Felicitas Braun, Katharina Weyland und Lennart Harting für ihre jeweiligen Beiträge zum Comic, die in Form von Hintergrundtexten Eingang finden.
Danken möchten wir ebenso der Filmemacherin Eva Oswald, die uns während mehrerer Sitzungen und eines Spaziergangs begleitet und einen Kurzfilm über die Entstehung des Comics aus dem Seminarkontext heraus gedreht hat.
Für die großzügige finanzielle Unterstützung bedanken wir uns herzlich bei der Leitung des BMBF-Projekts „Erfolgreich Studieren in Tübingen“ sowie beim neu gegründeten Methodenzentrum der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Diese Unterstützung ermöglichte es nicht nur, dass Illustration und Webdesign so professionell ausgeführt werden, sondern auch, dass einige Teilnehmende nach Seminarende als Hilfskräfte am Projekt weiterarbeiten konnten.
Denn das Comicmanuskript entstand außerhalb des Seminars und wurde im Sommer 2020 fertiggestellt. Nicht zuletzt beim Gedanken an die bildliche Umsetzung stolperten wir dabei über Fragen, die wir uns sonst wohl nicht gestellt hätten: Gab es damals schon Müllautos? Hat man mit Füllern geschrieben? Konnte man schon an Häusern klingeln oder musste man klopfen? Natürlich gab es auch schriftstellerische Herausforderungen, die wir bewältigen mussten: Was für Charaktere sind eigentlich Agathe und Franke? Was ist ihre Motivation für dieses Abenteuer? Wie wollen wir Jane Addams in Erscheinung treten lassen? Wie erzeugen wir Spannung? Was macht einen Comic interessant? Welche Darlings müssen wir killen?
In diesen und weiteren Angelegenheiten konnten wir uns auf Maike Gerstenkorn verlassen, die nicht nur hervorragend illustrieren kann, sondern auch in Sachen storytelling äußerst versiert ist. Und für die Einbettung der Comicstrips in eine Webdesign-Umgebung, bei der auch alle Hintergrundinformationen ein schönes Plätzchen finden, erhielten wir dann noch Unterstützung durch Kevin Körner und Annika Nagat, Dozent und Studentin aus dem Masterstudiengang Digital Humanities (wenn ihr mehr wissen wollt, schaut doch mal auf der Über Uns Seite vorbei!)
Neben diesen inhaltlichen Fragen haben wir regelmäßig darüber getüftelt, was denn eigentlich unser Ziel ist. Wen wollen wir erreichen? Warum? Was soll mit dem Webcomic schließlich passieren? Dient er dem Spaß an der Freude oder kann er Lehrmittel sein? Die Antwort liegt nicht zuletzt bei Euch, liebe Lesende. Denn mit einer Vielzahl von Quellenangaben, die über Hyperlinks in die Comicpanels eingefügt sind (hier gehts zum Editorial), ist es möglich, auch dann mehr über Pragmatismus, Sozialforschung, Soziale Arbeit und Soziologie zu lernen, wenn der Webcomic ausgelesen ist. Wir wünschen Euch viel Freude beim Entdecken!
In diesem Vortrag erfahrt Ihr mehr über die Siedlerinnen von Chicago, und weshalb sie für zeitgenössische Sozialwissenschaften von Bedeutung sind. Außerdem geht es um gegenwärtige Veränderungen der Bedingungen, unter denen an Universitäten Wissenschaft gemacht wird. Ihr lernt schließlich die Begriffe der mechanischen Objektivität, der feministischen Objektivität (geprägt von Donna Haraway) sowie der wissenschaftlichen Persona (geprägt von Lorraine Daston) kennen. Im besten Falle versteht Ihr dann, weshalb wir uns für einen Comic entschieden haben, und weshalb Agathe und Franke so sind, wie sie sind.
Mehr Informationen findet ihr auf der Seite des Arbeitsbereiches Qualitative Methoden und interpretative Sozialforschung.